Subjektive visuelle Lichterscheinungen spielen seit alters her eine wichtige Rolle im spirituellen Streben der Menschen. In der christlichen Kultur sind sie insbesondere aus den Visionen von Mystikerinnen und Mystikern bekannt. Hier werden sie als gnadenvolles Zeichen von Gott begriffen. Dass Lichterscheinungen auch Teil einer kontemplativen Praxis sein können, wie das Taborlicht im byzantinisch-orthodoxen Hesychasmus, ist eine Ausnahme.
Anders im indischen Yoga. Zwar wird der Yoga eher mit dem inneren Hören (Om, Nada Yoga) als mit dem inneren Sehen in Verbindung gebracht. Doch zentrale Yogatexte wie die Yoga Upanishaden, die Hathayogapradipika und die Gheranda Samhita messen mit Shambhavi Mudra und Taraka auch dem Sehen eine wichtige Rolle zu. Shambhavi Mudra ist eine bestimmte Augenstellung, meist zur Mitte der Augenbrauen oder auch zur Nasenspitze. Durch diese Mudra können innere Lichter gesehen werden. So heißt es beispielsweise in der Pradipika:
„Wer mit halb geschlossenen Augen und ruhigem Geist, die Augen auf die Nasenspitze gerichtet, Sonne und Mond zur Auflösung bringend durch regungslosen Zustand, der erreicht den strahlenden, vollkommenen Samen von allem in der Form eines Lichtes, die höchste Wahrheit, jenen Ort der erhabensten Realität“ (4, 41).
Oft erscheinen diese Lichter als runde leuchtende Kugel oder Scheibe. Gemäß der Sandilya Upanishad soll der Yogi während Pranayama „seinen Blick in die Richtung der Nasenspitze lenken und dabei mit seinen Augen die Mondscheibe, aus der Nektar fließt, in der Mitte der Augenbrauen sehen“ (I, 5, 2). Die Gorakshashataka berichtet von der „Gottheit ähnlich einer glänzenden Perle in der Mitte beider Brauen“ über die der Yogi meditiert, während er seinen Blick auf die Nasenspitze gerichtet hält (84). Und in der Gheranda Samhita heißt es:
„Führe Shambhavi Mudra (Blick zum Punkt zwischen den Augenbrauen) aus und nimm den Atman wahr. Sobald du das Brahman in einem Punkt (Bindu) siehst, richte den Geist darauf“ (7, 7).
Dieses Licht zwischen den Augenbrauen wird mitunter „Taraka“ genannt. In der Mandalabrahmana Upanishad heißt es, der Yogi soll „auf das Taraka blicken. Denn dies sei „das Brahman, das in der Mitte der Augenbrauen in der Form eines Glanzes der Höchsten Existenz, Bewusstsein und Glückseligkeit gesehen wird“ (II 3-4). Der Blick auf die Stelle zwischen den zwei Augenbrauen kann also als Taraka Yoga bezeichnet werden. Dieser Yoga ist sowohl körperlich wie geistig. Es ist ein inneres Sehen, bei dem sich Auge, Geist und Selbst miteinander verbinden. Die Augen können dabei geschlossen, halb geöffnet oder auch ganz geöffnet sein – die Mandalabrahmana Upanishad rät jedoch zum „Vollmond-Sehen“, d.h. zum Sehen mit ganz offenen Augen. Wenn der Yogi durch Taraka Yoga ein Leuchten vor der Stirn sieht, wird er selbst diese leuchtende Form und damit ein Vollendeter (Siddha).
Wie lässt sich dieses innere Licht aus einer modernen westlichen Perspektive begreifen, die Wissenschaft und Spiritualität versöhnt? Durch die Praktiken des Schamanismus, der Mystik oder des Yoga – Konzentration, Meditation, Atemübungen und Ekstasetechniken – treten innere Erscheinungen allmählich in den Vordergrund. Im Fall des Sehsinnes sind es sog. entoptische Erscheinungen – d.h. im inneren unseres Sehnervensystem erzeugte Erscheinungen –, die stets da sind, aber üblicherweise nicht gesehen oder nicht beachtet werden. Eines dieser Phänomene sind die im Blickfeld schwimmenden transparenten Punkte und Fäden. In der Augenheilkunde sind sie als Mouches volantes bekannt und werden als Glaskörpertrübungen begriffen. Doch wer sie über längere Zeit konzentriert beobachtet, erkennt sie als klare und leuchtende Kern-Umkreis-Strukturen. Ihre Leuchtkraft und Größe kann sich in intensiveren Bewusstseinszuständen zusätzlich steigern. Daher nenne ich sie die „Leuchtstruktur des Bewusstseins“. Was wir also ständig in unserem Blickfeld haben und vielleicht sogar als Störung empfinden, können wir beispielsweise durch Yoga zu leuchtenden Sonnen- und Mondscheiben, Perlen und Bindus entwickeln. Das Licht, das wir dann im Außen sehen, ist ein Ausdruck des Lichts im Innen.
Ein Text von Floco Tausin, www.mouches-volantes.com, Autor des Buchs „Mouches Volantes – Die Leuchtstruktur des Bewusstseins“ (Leuchtstruktur Verlag, Bern 2010, Paperback, 376 Seiten, Genre: Belletristik/mystische Erzählung).
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